Cover
Titel
Quellen der Antike.


Autor(en)
Möller, Astrid
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Markus Kötter, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der zu rezensierende Band steht in der Tradition zahlreicher anderer propädeutischer Titel zur Geschichtswissenschaft in der UTB-Reihe. Mit dem Fokus auf die Quelleninterpretation liefert Astrid Möller dabei in gewisser Weise ein Komplement zu Klaus Meisters zweibändiger Einführung „Die Interpretation historischer Quellen“ mit dem Schwerpunkt Antike von 1997/1999. Im Gegensatz zu diesem älteren Titel hat Möllers Buch jedoch den durch den cultural turn initiierten Paradigmenwechsel nachvollzogen, der mittlerweile (freilich mit Verzögerung) auch die Geschichtswissenschaften und die Alte Geschichte erreicht hat.

Ausgehend von der Forschungsgeschichte und in Anlehnung an Johann Gustav Droysens Heuristik möchte Möller angehenden Historiker:innen zeigen, wie sie ihre Quellen zum Sprechen bringen können (S. 9f.), ohne jedoch davon auszugehen, dass es hinter den Quellen die Ebene einer wirklichen Geschichte gebe oder es gar die Hauptaufgabe der Quelleninterpretation sei, historische Wahrheit zu finden (v.a. S. 17–19). Mit diesen wichtigen Vorbehalten steht die Autorin auf Basis zum einen eines erweiterten Kulturbegriffs, der auf die eine jeweilige Wirklichkeit an sich überhaupt erst sinnstiftend konstituierenden Symbol- und Zeichensysteme abhebt, und zum anderen einer (damit natürlich zusammenhängenden) Anerkennung der sprachlichen Verfasstheit der menschlichen Welt (S. 11–14). Unter diesen beiden Prämissen will Möller den Weg zu einer „kulturwissenschaftlich aufgeklärte[n] Quelleninterpretation“ weisen, „die durch möglichst allseitige Kontextualisierungen der Quellen vor allem nach ihrer Bedeutung in dem ursprünglichen Entstehungszusammenhang fragt“ (S. 14).

Um das zu gewährleisten, widmet sich Möller in ihrer Einführung (S. 7–26) vergleichsweise ausführlich der Methodik, d.h. sie erläutert, aufbauend auf einer kurz gehaltenen Geschichte der Quellenhermeneutik (S. 8–10), die als Leitperspektive zur Arbeit mit den Quellen ausgerufenen kulturwissenschaftlichen Paradigmata (s.o.) und entwickelt hieraus dann das Schema einer Quelleninterpretation nach Kontexten (v.a. S. 17–24), die nicht – anders als noch die von Möller kritisierten klassischen W-Fragen – in erster Linie auf die historische Glaubwürdigkeit einer Quelle zielt, sondern auf eine umfassende Erschließung von „Bedingungen und Möglichkeiten [ihrer] Aussagekraft“ (S. 17). Gerade durch den Fokus auf die Interdependenz von Quelle und Kontext(en) soll, so das Anliegen der Autorin, das Spektrum möglicher Fragen erweitert werden, um so neue Perspektiven auf Quellen zu erhalten, abseits der positivistischen Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit in Bezug auf vorgebliche historische Tatsachen (ebd.). Bei den sieben Kontexten, die in der Folge Möllers exemplarische Quellenbetrachtungen leiten werden, handelt es sich konkret um den (1) medialen Kontext, (2) Produktionskontext, (3) Fundkontext, (4) Verwendungskontext, (5) situativen Kontext, (6) sozialen Kontext und (7) kognitiven Kontext.1

Das Kernstück des Buches bilden dann sechs Beispielinterpretationen von Quellen ganz unterschiedlicher Gattung und unterschiedlicher Materialität. Zur Sprache kommen (1) Historiographie (Liv. 2,48,8–50,11 über die Heldentaten der Fabii in der Schlacht am Cremera); (2) antike Biographie (Plut. Pompeius 23,1–4 über den Feldherrn Pompeius als Politiker); (3) attische Komödie (Aristoph. hipp. 624–682 über demokratische Kommunikation in Athen); (4) Epigraphik (CIL X 1030 zu Freigelassenen, die ihre soziale Rolle in einem Grabmonument spiegeln); (5) Fachtexte (Xen. oik. 7,18–29 über unterschiedliche Rollen von Frauen und Männern); (6) antike Bilderwelten (eine Hydria aus Vulci, ca. 520 v.Chr.). Alle Kapitel sind im Großen und Ganzen gleich aufgebaut: Auf die Vorstellung der Quellengattung, den kurzen Abriss der Forschung hierzu und die Entwicklung einer entsprechenden Leitfrage folgt die Beispielquelle selbst, eine kurze Zusammenfassung ihres Inhalts und die ausführliche Beleuchtung der zuvor konstituierten (s.o.) Kontexte. Auf dieser Basis wird dann der Bedeutung der Quellenpassage hinsichtlich der jeweils zuvor formulierten Fragestellung nachgegangen, bevor einige Leitfragen das Vorgehen zusammenfassen und eine Wiederholung ermöglichen. Abschließend gibt Möller jeweils kurze Lektüreempfehlungen (im Anhang des Buches findet sich noch eine ausführliche Bibliographie in thematischer Ordnung: S. 145–163).

Einen Erkenntnisgewinn im Sinne genuiner Forschung wird man von den kurzen Beispielen nicht erwarten dürfen. Zumindest das Kapitel zur Historiographie (hier kann sich der Rezensent ein Urteil am ehesten erlauben) bietet zwar in kurzer Form einen durchaus zutreffenden Überblick über den Forschungsstand (wenn auch die beiden identifizierten Grundpositionen in einer auf S. 30 skizzierten Einseitigkeit kaum vertreten werden), verlässt diese Basis aber nicht zugunsten eigener Überlegungen und Positionierungen; einzelne Details der Darstellung bieten darüber hinaus sachliche Ungenauigkeiten, beispielsweise entstammten römische Historiker vor Livius keineswegs allesamt der senatorischen Oberschicht und waren aktive Politiker (so aber S. 40). Da es Möller in ihrer didaktisch-methodischen Orientierung an einem studentischen Publikum nun aber ohnehin überhaupt nicht um genuine Forschungsbeiträge geht, sind solche Mängel letztlich zu verschmerzen.

Die kritische Würdigung sollte also auf Ebene der von Möller selbst ausgegebenen Ziele erfolgen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass sie ihr gleich zu Beginn formuliertes Ziel, „[a]nhand von sechs ausgewählten Beispielen […] exemplarisch in die moderne Quelleninterpretation der Alten Geschichte ein[zuführen] und […] die Möglichkeiten verschiedener Interpretationen und die Vielzahl von Lesarten der Quellen dar[zulegen]“ (S. 7), ohne Zweifel erreicht. Dass Möller als moderne Interpretation dabei eine Interpretation unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen versteht, kann ebenfalls nicht Gegenstand der Kritik sein, auch wenn natürlich nicht auszuschließen ist, dass es noch immer Kolleg:innen gibt, die eine solche Art der Modernität als (im polemischen Sinn) postmodern auffassen würden. Sei es drum, „Haters gonna hate“. Der Rezensent stimmt Möller hingegen uneingeschränkt zu, dass es wünschenswert und notwendig ist, Student:innen mit einer Herangehensweise ans Material zu konfrontieren, die den Fokus nicht mehr so sehr auf eine dokumentarische Wirklichkeit hinter den Quellenberichten legt, sondern auf den inhärenten Sinn in den Quellen. Dies anders zu sehen, hieße, die Erkenntnisse von gut 40 Jahren Forschung im und zum cultural turn zu ignorieren, zurück zu einem maßgeblich positivistischen Geschichtsverständnis zu gelangen und dadurch den Dialog zu den Nachbardisziplinen abzuschneiden.

Fraglich bleibt insofern allein, ob Möller ihrem Publikum nicht ein wenig zu viel zumutet. Denn die Kehrseite davon, die Möglichkeiten und Perspektiven einer kulturwissenschaftlich informierten Quelleninterpretation an einzelnen Beispielfällen durchzuspielen und dabei ausdrücklich auf die Vielzahl möglicher Fragen und Lesarten zu fokussieren, ist die Vereinzelung der Befunde, die wiederum Unsicherheiten beim praktischen Nachvollzug der Analyseschritte hervorrufen kann. Auch wenn klassisch-texthermeneutische Quelleninterpretationen à la Klaus Meister mit ihren W-Fragen sicher etlicher Modifikationen und Modernisierungen bedürfen, so boten sie doch zumindest ein einfach nachzuvollziehendes Raster für die erste Annäherung an Quellen, das von Studierenden ohne größere Hürden reproduzierbar war. Nun sollte man nicht aus Gründen der Bequemlichkeit am Überkommenen festhalten, und die Vielzahl möglicher Fragen, die die Kulturwissenschaft fördert und fordert, ist wissenschaftlich fraglos angemessen; sie ist in der akademischen Grundausbildung aber nur schwierig systematisch nachzubilden, denn Studierende sind stets mit anderen Quellen, Gattungen und Erkenntnisinteressen konfrontiert als Möller sie präsentiert. Hinzu kommt, dass ihre Analysekontexte schon a priori ein gewisses Maß an Vorkenntnis erfordern, weshalb sich das rezensierte Werk gerade für Studienanfänger:innen nur bedingt eignet, es sei denn zur ersten Sensibilisierung dafür, dass sich Geschichtswissenschaft nicht in der möglichst genauen Rekonstruktion dessen erschöpft, was in der Vergangenheit einmal passiert sein mag – und eine solche Sensibilisierung wäre freilich nicht das geringste Verdienst von Möller.

Den Problemen rund um den von ihr gewählten exemplarischen Zugang ist sich die Autorin selbstverständlich bewusst (v.a. S. 139) – und fairerweise wird man einräumen, dass das Vorgehen auch kaum zu vermeiden ist. So bleibt, ungeachtet der skizzierten Probleme, insgesamt ein positives Fazit: Zwar gibt das Buch den angepeilten Nutzer:innen weniger wirklich konkrete Hilfe für den Umgang mit antiken Quellen an die Hand, als diese bei einem Titel dieser Art vielleicht annehmen würden, es öffnet dafür aber den Blick für die Breite möglicher Fragestellungen abseits eines Wie es wirklich gewesen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Gewinn, wohingegen die Schwächen in Bezug auf die Anwendbarkeit und Umsetzbarkeit durch Studierende (zumindest durch Anfänger:innen) im Rahmen einer derart kurzen Einführung kaum zu lösen sind. Hier ist weiterhin der akademische Unterricht gefordert, den Möller wohl auch schwerlich ersetzen möchte; in dieser Perspektive kann man ihr Buch auch als Einladung an die akademische Lehre auffassen, Student:innen weiter zu sensibilisieren und zu motivieren, eigene und kulturinformierte Zugänge zum historischen Material zu finden, die nicht zuvorderst eine Wirklichkeit hinter den Quellen suchen, sondern zunächst einmal eine kulturelle Eigenlogik in den Quellen.

Anmerkung:
1 Mit diesen Kontexten orientiert sich Möller im Grundsatz an Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2008, S. 105–110, erweitert und differenziert die vier Landwehr’schen Kontexte (situativ, medial, institutionell, historisch) aber weiter aus (S. 20).

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